(unvollständige Aufzählung, 2006)
SAALBERG, der Ort glücklicher
Kindheitstage. Die Vorfreude auf die alljährlichen Sommerferien im Fachwerkhaus
der Großeltern mit Blick ins Hirschberger Tal.
(Erinnerung, stehe auf
und mache dich bereit. Sieh auf meine Lippen und spreche mir nach: Der
Hartriegelbusch. Das weiße Haus auf dem Hügel. Der Efeu im Fachwerk und der
blaue Morgen auf dem Schindeldach...)
Die alte Burgruine des Kynast (...über den der Sommer seine Gewitter
rollt...), Ausflüge zu den Bauden des
Riesengebirges, zur Schneekoppe, zum Jäger ins
Isergebirge. Der Jugendtraum vom Försterberuf.
Mit 17 in den Krieg eingezogen, sieht mein Vater den Ort seiner Kindheit
(heute: Zachełmie) erst mit 75 Jahren wieder. Da hat er bereits
unter dem Namen Christian Saalberg einundzwanzig Gedichtbände veröffentlicht.
Aus Saalberg ist ein innerer Ort, ist der Name eines Dichters geworden.
KIEL, 1946 bis 2006. Rechtsanwalt
und Notar Dr. Christian Rusche. 1957 Heirat mit Gertraud Jansen. In KRONSHAGEN, einem Vorort, wird ein Bungalow der "neuen
Heimat" bezogen. Die Tochter Viola kommt auf die Welt. Neben dem
Rechtsanwaltsdasein entfaltet sich „wie von selbst“ das „2. Leben“, die
dichterische Existenz. 1963 der erste Gedichtband, 2005 der dreiundzwanzigste
Gedichtband.
Auch Kronshagen taucht auf:
in dem frühen Gedicht "Verspätete Ankunft einiger Heiliger in dem
Landstädtchen K." stellen die "böhmischen Brüder" in K. alles
auf den Kopf. Der damalige Kronshagener Bürgermeister ahnt nicht, dass er als "Bürgermeister
Meinulf" einen Ehrenplatz im Gedicht bekommen hat.
Der WESTENSEE, ein Fluchtpunkt.
Mit dem geliebten Klepper-Faltboot, allen Ärger der Anwaltspraxis hinter sich
lassend, auf dem Wasser wieder zum eigenen Wort finden. In Abenteuerlaune wagt
sich mein Vater mit dem kleinen Boot sogar hinaus auf die Nordsee. (SINDBAD
IM WATTENMEER Süderoog-Sand. Ich ziehe mein Boot an Land, klimme der Aussicht
wegen die Bake hoch. Sehe mit Erstaunen, wie sich die Halligen formieren, eine
nach der anderen, und den Dampfern folgen auf ihrem Ausflug von Büsum nach
Helgoland. Dann gehen meine Blicke über das Watt. Auch das Meer scheint zu
verschwinden, macht sich auf
meine Kosten irgendwo einen schönen Tag. Sitze hier auf dem Trockenen. Abends
im Pharisäerkrug lege ich los, wettere gegen diese verkehrte Welt.)
HUSUM die Stadt Theodor Storms.
Der kleine Hafen, die Wasserreihe, die Grauen Brüder.
Im Gedichtband "Das
Schloß vor Husum" auch ein Besuch im Haus von Emil Nolde. (Klix- und
Klanxbüll. Namen, nie gehört, wie vom Winde gefeilt. Segler über Rosenkranz und
Aventoft. Die Betonstraße, warm und leer im sirrenden Licht. Abseits die Stare
im Reet. Ungemalte Bilder auch sie....)
PRAG, die Stadt der literarischen
Heimat (Kafka, Král, Nezval, Holan, Seifert...), die Stadt der Sehnsucht. Zwei
Gedichtbände ausschließlich mit Prager Gedichten: Die alten Nächte (1987) und
Schwierige Ruinen (1995).
Der Prag-Zyklus "An diesem schönen Todestag im Mai" erscheint das
erste Mal 1982, wird dann immer wieder aufgegriffen, bis mein Vater an einem
schönen Tag im Mai, am Himmelfahrtstag diesen Jahres, stirbt. (An diesem
schönen Todestag im Mai. Ich bummle am Ufer der Moldau entlang. Fremde Schatten
treten auf mich zu, sprechen mich an, ein Königreich in der Hand. Vor der Wache
lösen sich die Posten ab, ein Schweigen, das dem Schweigen Antwort gibt.)
Die FRANZÖSISCHE GEISTESWELT,
(André Breton, Paul Eluard, René Char, Aragon, Maurice Blanchot,...). Eine
Offenbarung für den körperlich und geistig ausgehungerten Studenten im Kiel der
Nachkriegsjahre. 1953 schreibt er den Aufsatz "Paul Eluard und der
Surrealismus". Kurz darauf entstehen die ersten eigenen Gedichte. Sein
ganzes Leben lang bleibt die Dankbarkeit für dieses Startkapital, auch wenn die
eigenen Gedichte sich mehr und mehr von allen Vorbildern befreien. Immer wieder
Neuentdeckungen: Paul Valery (mit dem
Herausgeber der Gesamtausgabe tauscht er die jeweils neuen Bände aus), Julien
Gracq, Philippe Jaccottet, Yves Bonnefoy...
Die KATHOLISCHE GEISTESWELT.
Kardinal Newman, eine Leitfigur, deren Treue zu sich selbst meinen Vater
als jungen Mann tief beeindruckt. Kurze Zeit sogar die Überlegung, zum
Katholizismus zu konvertieren. In der Bücherwand alle auf deutsch erschienenen
Bücher Newmans. Durch die Mitarbeit in der Kardinal-Newman-Forschung Bekanntschaft
und spätere Freundschaft mit seinem ersten Verleger Karl Borromäus Glock.
Weitere "geistige Lehrer": Theodor Haecker, Romano Guardini, Reinhold
Schneider, Jacques Maritain. Die Romane Georges Bernanos', die Verfilmungen
Robert Bressons. Bis zum Schluss liest mein Vater täglich in den Tagebüchern
von Julien Green.
Das RÖMISCHE RECHT, dem Studenten
durch die Vorlesungen Prof. Dulckerts nahegebracht. 1965 ein Auswahlband über
Rudolf von Ihering "Der Kampf ums Recht", mit einem Vorwort von
Gustav Radbruch. (Glock und Lutz-Verlag, Nürnberg) Im gleichen Verlag
erscheint bereits 1963 der erste Gedichtband "Die schöne Gärtnerin".
Der Verfasser des Gedichtbandes nennt sich Christian Saalberg, der Herausgeber
der Ihering-Anthologie Christian Rusche. Kurz vor seinem Tod übergibt mein
Vater seine Rechts-Bibliothek an die Universität Kiel.
Die DICHTERSTUBE, zugewachsen mit
Büchern, auf Regalen über- hinter- und nebeneinander, am Boden zu Türmen
aufgeschichtet, sogar auf dem Gardinenbrett. Auf der Fensterbank die geliebte
Uhr (Wie es scheint, leiden wir an der gleichen Krankheit: unsere Zeit läuft
ab), an den Bücherborden Fotos und
Bilder, ein Poster von Isaac B. Singer mit dem Zitat: „Schließlich, was ist
denn ein Schriftsteller? Nur seine Bücher." Auf dem Schreibtisch seine
"launische Geliebte": die Hermes Baby - eine Schreibmaschine, auf der
„meine Doktorarbeit, so mancher Liebesbrief und 25 Gedichtbände“ entstanden
sind. Alle Gedichte zuerst handschriftlich entworfen, dann getippt, dann wieder
korrigiert. Ein unentwegter Prozess des Findens und Feilens.
Der WALD "Dunkler Wald meines
Lebens, dich habe ich immer geliebt", ein Zitat von Giorgio di Chirico
nach Dante wird im eigenen Gedicht weitergetragen. (Ich flüchte in das
Waldesdunkel meines Schlafgemachs und lasse mich auf dem Bettrand nieder, der
übersät ist von den Trümmern vieler Herzen. Es gibt auf dieser großen weiten
Welt nichts, was nicht eines Tages
Wahrheit wird. Ich begegne nacheinander einer Stille, die nicht für die Ohren
dessen bestimmt ist, der vorübergeht und einem Wald, aus dem grüne Flammen
schlagen, hinter denen sich mein Leben verbirgt. Dunkler Wald meines Lebens,
dich habe ich immer geliebt. Geduldig warte ich, bis er mir in die Schlinge
meiner Worte geht.) Aus dem
Berufswunsch, Förster zu werden, wurde der Rechtsanwalt - den ich als Kind
immer für einen "Rechts-am-Wald" hielt, gab es doch kaum ein
Wochenende, an dem mein Vater nicht in das Revier seines Jägerfreundes gezogen
wäre, mit einem Buch bewaffnet.
Der ZWEITWOHNSITZ. Immer, wenn
wir am städtischen Krankenhaus vorbeifuhren: „Schaut mal, mein Zweitwohnsitz“.
Die Polymyositis. Wie fast alle Autoimmunkrankheiten nur mit Cortison unter
Kontrolle zu bekommen, leider mit allen schlimmen Nebenwirkungen - jedoch auch
der, dass eine höher dosierte Gabe Cortison den eigentlich früh zu Bett
gehenden manchmal bis nach Mitternacht am Schreibtisch sitzen ließ. (...der
Blumentopf auf der Brust einer Jungfrau, die Brust der Jungfrau im
Schwarzhandel, der Schwarzhandel auf Seite vier von Goethes Werther, Goethes
Werther in einer kriechenden Woge, die kriechende Woge im Weihwasserbecken, das
Weihwasserbecken, die kriechende Woge und sie alle in hundert Milligram
Decortin, versenkt in einen leeren Schädel und das alles nur aus Gründen der
DICHTKUNST )
Und doch: Der Körper läßt
unaufhaltsam nach, das Herz, die Lunge, die zunehmende Entkräftung. Noch im
Krankenhaus entstehen Gedichte, handschriftlich, auf einzelnen Zetteln und
Pappdeckeln. Manchmal sogar von dort direkt zu mir gefaxt, die jeweiligen
Klinik-Abteilungen als Absender auf dem Fax-Kopf. Das hätte den Surrealisten
gefallen.
Was bleibt: die Geduld, mit
der mein Vater seinem Tod entgegensah. Erschöpft und dennoch produktiv bis zum
letzten Moment (der am Vorabend seines Todes beendete Odessa-Zyklus, an Freunde
adressiert, lag absendebereit auf dem Tisch) Gestorben ist mein Vater zuhause,
wie er es sich immer gewünscht hatte.
ODESSA, das er nie gesehen hat. "So ist es in Odessa", der letzte Gedicht-Zyklus. Der Ort Isaak Emmanuilowitsch Babels, ein Ort jüdisch-osteuropäischer Tradition, aus der auch die Klezmer Musik entstammt, die mein Vater so liebte. Das Wiegenlied "rozinkes mit mandlen" von Abraham Goldfaden läuft unter den Gedichten des Odessa-Zyklus entlang wie eine imaginäre Tonspur. (Shlof zhe yidele shlof)
TRANSIT-ORTE, zu viele, um sie aufzuzählen.
Reisen, geografische und literarische, spiegeln sich wieder in detaillierten
poetischen Bildern. Auch historische Orte und Vorfälle werden zitiert und
einmontiert - immer vorliegenden Quellen entnommen und dennoch nur dem Gedicht
selbst verpflichtet. (Alvaro sagt, es lohne nicht die Mühe, daß es Leben
gibt. Steckt sich eine Zigarette an und schiebt die Reise auf, schiebt alle
Reisen auf. Komm morgen wieder, Wirklichkeit! Auch ich frage mich, was geht es
mich an, ob die Bäume grün sind oder was aus der Fassade der Pariser Oper
geworden ist. Ist das nicht alles ein Scherz? Dennoch geht die Partie
unentschieden aus...)
DIE ORTE DER ANDEREN in jedem Gedichtband Zitate und Motti anderer Dichter, (meist den
Kapitelüberschriften beigefügt, gelegentlich als Zitat im Gedicht selbst).
Achmatova, Alberti, Altmann, Al-Arif, de Andrade, Apollinaire, Baratynski,
Baudelaire, Blanchot, Bonnefoy, Breton, Brontë, Canetti, Caproni, Celan, Char,
de Chirico, Christensen, Cirlot, Claudel, Crevel, Daglerca, Dávila, Dickinson,
Gabe, Gide, Ehrich, Eluard, Fabry, Flaubert, Ginzburg, Günderrode, Guillevic,
Gryphius, Henniger, Heraklit, Herzele, E.T.A.Hoffmann, Holan, Hopper, Jabès,
Jaccottet, Jouve, Juarroz, Kafka, Kasack, Keats, Kosmac, Král, Limbour, Lipska,
Lispector, Mandelstam, Marencin, Melville, Ménegoz, Mèszöly, Michaux,
Montaigne, Montale, Neruda, Nezval, Pascal, Pavese, Pavlovic, Paz, Peret,
Pessoa, Petrarca, Pizarnik, Ponge, Popa, Pound, Praz, Rimbaud, Renard,
Schklowski, Shakespeare, Silbermann, Silesius, Simon, Singer, Seifert,
Soupault, Tabucchi, Tschechov, Ungaretti, Valery, Yeats, Zábranská,
Zahardnicek...
Der TOD, Nostra
Signora Morte. Ein Ort?
Ein Ort,
der unbestimmbar ist und dennoch Kulminationspunkt. Nicht unbedingt der
Gegensatz des Lebens, jedoch ohne Einengung und immer wieder neu befragt. (Wenn
ich tot bin und mein eigenes Herz schlagen höre, wird man mir ein Menü
servieren, von dem ich nichts esse, weder von den Waldvögeln und ihrem Streit,
noch von den schwarzen Ästen, dem dunklen Strauß unserer Schmerzen, von den
durchziehenden Dieben, vom Lachen der jungen Mädchen, deren Hüften sich biegen,
deren Brüste mich durchbohren. Lieben ohne zu lieben. Leiden, ohne zu leiden.)
Die SPRACHE.Wenn überhaupt, dann hier das Wort Heimat. Vom Spiel mit der Sprache, das mein Vater so liebte und das immer dem Ernst die Schwere zu nehmen vermochte (AMOR VATI), bis zum forschenden, manchmal auch herausfordernden Gespräch mit dem Tod. Vom freien Fliessen der inneren Bilder bis zur Lakonie weniger Worte. (Mit der Dichtkunst ist das so: die Wörter wollen aufgeschrieben werden. Weiter nichts. Gott weiß, warum)